In Sellin kennt sie jeder. Sie ist eine Königin. Eine Felsin in der Brandung. Ihre Planken knarren von Ereignissen aus über 100 Jahren Inselgeschichte. Seit ihrem Geburtsjahr 1906 hat sie viel erlebt. Nichts haben ihr die Stürme der Zeiten und des Meeres erspart. Kriege, Brand, eisige Winter, Packeis und ausgelassene Feste fegten über sie hinweg. Keine Strebe, keine Stütze ist an ihrem Platz geblieben. Mehr als viermal verjüngt, herausgeputzt und neu errichtet wurde die Selliner Seebrücke im Laufe ihres Lebens. Trotzdem strahlt die Grande Dame mit ihrer majestätischen Länge von 394 Metern heute, als wäre all das spurlos an ihr vorübergegangen. Ihr makelloses Erscheinen verdankt sie unter anderem dem Göhrener Architekturbüro Herrmann + Müller. Mit Letzterem trafen wir uns, um Lebens- und Restaurierungsgeschichte Ihrer Eleganz von Sellin zu rekonstruieren.
Niedergang und Aufstieg einer Unzerstörbaren
Es ist ein trauriges Bild, das sich den Architekten Thomas Herrmann und Wolfgang Müller Anfang der 90er Jahre bietet. Nur noch wenige Holzplanken des einst prunkvollen Wahrzeichen des Ostseebads ragen aus den Wellen. Der Zahn der Zeit und extreme Wetterbedingungen hatten 1974 ihre Spuren im Holz hinterlassen. Heruntergewirtschaftet und verwittert musste die Brücke gesperrt werden. Vier Jahre darauf schien ihr Ende besiegelt. Der Abriss folgt. Auf Ansichtskarten der 80er Jahre ist die Brücke weitgehend von der Bildfläche verschwunden.
Das Engagement der Selliner Bürger, ein Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1991 und Förderprogramme nach der Wende gaben der Seebrücke neue Hoffnung.
Der Tag, an dem ihre Wiedergeburt begann, ist der 27. August 1992.
Einige Schwierigkeiten habe ihnen die Dame in den sechs Jahren des Wiederaufbaus bereitet, erinnert sich Müller. Während des Baus war er für das Vorhaben täglich unterwegs. Strom für die Gastronomie und nächtliche Beleuchtung musste arrangiert werden. Mineralwolle, Gipskarton und Stahlträger mussten über Schrägrampen gehievt werden. Ohne fachlich versierte Handwerker, Improvisationstalent und den Mut aller Beteiligten hätte es nicht funktioniert, unterstreicht der Architekt. Seine Erfahrungen der vergangenen Jahre dürften ebenfalls geholfen haben. Der gebürtige Sachse studierte Bauwesen im Heimatort Leipzig. Ab 1986 war er vier Jahre technischer Direktor bei Schalenbauingenieur Ulrich Müther im Spezialbetonbau Binz.
Schneewittchens Erwachen
1998 war es geschafft. Die feierliche Neueröffnung der Brücke erfolgte am 2. April. Das Ergebnis: ein Kompromiss aus modernem Stil und herrschaftlicher Bäderarchitektur nach den historischen Vorgängern der Greifswalder Firma Spruth von 1906 und der Version von 1925. Ein T-Steg mit Kaiser- und Palmengartenpavillon, Doppeltürme, eine Plattform zum „Prominieren“ und zwei Anlegestellen am Brückenkopf. Wie damals, als die „Weißen Schwäne der Ostsee“, wie die Überseedampfer liebevoll genannt wurden, anlegten. Nach 20 Jahren Ruin ist die Seebrücke heute wieder die strahlende Schöne, auf deren Rücken wir zu Fuß über das Meer laufen können. Eine ewig junge und sicher meistfotografierte Dame der Insel. Das weiß sie auch.
Im Morgengrauen, wenn das Meer wellenlos vor der Küste liegt, hört man sie flüstern: „Meeresspiegel, Meeresspiegel, weit bekannt, wer ist die schönste Seebrücke im ganzen Land?“ Und das Meer antwortet eilfertig: “Ihr, meine schneeweiße Königin, Ihr!“
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