Schilf ist der beste Beweis, dass man es von ganz unten bis ganz nach oben schaffen kann. Auf Rügen bringen es die hohlen Süßgräser aus dem Brackwasser der Bodden bis auf die Dächer pittoresker Häuser. Das sieht vor allem schön aus, aber es ist noch mehr.
Schilf wird gelobt wegen seiner tollen Dämmeigenschaften und seiner Wetterhärte. Die Regenrinnen kann man sich außerdem sparen – der große Überhang der Halme hält das Wasser weit genug vom Gemäuer fern. Ein halbes Jahrhundert, gut zwei Generationen, schützt so ein Dach vor Niederschlägen, Sturm und Kälte. Im Winter war es auch ohne Ofen unterm Dach auszuhalten, im Sommer kühlte und trocknete es das Erntegut, das auf dem Dachboden lag. So war es jedenfalls die längste Zeit auf der Insel, als Schilf für die armen Rügener Büdner das Material der Wahl war. Stroh, billiger und leichter zu beschaffen, kam da nicht mit. Außerdem wuchs darauf der Blutwurz nicht, seinerzeit die beste Versicherung gegen die größte Gefahr für jedes Haus: den Blitzeinschlag.
Feuer ist auch heute noch ein Problem. Pilzbefall, schilffressendes Unkraut, solcherart Bedrohung hat die moderne Chemie im Griff. Doch ein Brand kann noch immer alles zunichte machen. Die Besitzer nehmen es in Kauf (der für ein Schilfdach, nur nebenbei, rund ein Drittel teurer kommt als bei Ziegeldächern). Denn was die Klinker fürs Gemäuer sind, ist das Rohr für das Dach: hervorragender Schutz und schönster Schmuck, denn das Auge wohnt ja mit. Das Ohr auch: Regen, der auf ein Rohrdach schlägt, ist leiser. Eine sanfte, eine besänftigende Melodie, ein Gruß von Bach oder Schubert aus dem Himmel. Regen auf Schindeln ist Heavy Metal.
Das Rügener Rohr gilt als besonders langlebig und gut isolierend. Es sollte ohne Blätter sein und obenauf eine dunkle „Blume“ haben. In den seichten Uferrändern der Wieken wächst es besonders gerade, hart und zahlreich. Man muss es nur noch abschneiden.
Auf Rügen passiert das in jedem kühlen, am besten frostigen, trockenen Winter von Dezember bis März. Nicht mehr per Messer oder Sichel, sondern auf eindrucksvollen Maschinen, die auf Ballonreifen durch das Röhricht ziehen. Es heißt auch nicht abschneiden, sondern mähen, ernten oder werben. Das Wort „werben“ wirkt lustig in diesem Zusammenhang. Es klingt, als müsste sich Stefan Rolinski erst die Zuneigung der Halme sichern, bevor er an sie ran darf. Das ist natürlich Quatsch, zumal er dafür keine Zeit hat. Rund 25.000 Bündel, jeweils 20 Zentimeter dick, muss der Rohrdachdecker in den drei Monaten zusammen bekommen. Das reicht für ein Dutzend Dächer. Was er nicht von seinen Flächen bei Drigge oder auf dem Dänholm (Inselchen bei Stralsund) holt, kommt aus Rumänien oder Polen. Er bringt sein Erntegut sofort in das Lager bei Samtens, raus aus der feuchten Luft. Mit Nadel, Draht und Klopfbrett ist er den Rest des Jahres obenauf. Er zählt die Dächer nicht, aber Urlaub, so viel ist klar, geht nur im Winter.
Auf Rügen heißt es übrigens Rohrdach. Nicht Schilf-, Reet- oder Rieddach. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, im wahrsten Sinne des Wortes: Nirgendwo sonst sind die Halme so fein und lang. Wer das anders sieht, dem steigt Stefan Rolinski aufs Dach.
Text: Maik Brandenburg
Bild: Harald Schmitt
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